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EIN GESPRÄCH MIT DER KÜNSTLERISCHEN LEITUNG«Das Wohnen im Material macht die Kunst» Was bleibt gleich, was wird anders, und worum geht es in dem neuen Stück? Gespräch mit dem künstlerischen Leitungsteam Masha Dimitri (MD), Livio Andreina (LA) und Anna-Maria Glaudemans (AMG).
Beginnen wir am Ende. Auch dieses Mal hört die Geschichte mit einem Fest auf. LA: Unbedingt. Es gibt ein Fest mit Musik, ein einfaches Tessiner Essen, nichts Schickes, sondern ein Essen aus dem Tal mit einem Vino da tavola und vielleicht wieder eine Polenta ... MD: ... oder etwas mit Kastanien oder Kartoffeln. AMG: Um was für ein Fest es sich handeln wird, möchten wir an dieser Stelle noch nicht verraten. Aber so viel bereits vorab: Vermutlich wird eine Mamma alle empfangen. Die Frauen spielen dieses Mal eine grosse Rolle. LA: Das Stück wird eine Hommage an die Frau. MD: In diesem Festmahl treffen auf jeden Fall alle Figuren erstmals zusammen. Hier entfaltet sich das Schlusskapitel der Reise.
Wo beginnt die Reise? LA: Am Bahnhof in Verscio. Hier etablieren wir das Thema des Stückes. Wir müssen also einen Grund finden, warum alle in den Zug einsteigen.
Kommen wieder ähnliche Figuren vor wie beim letzten Mal? LA: Es werden andere Figuren sein. Ein Postino, der viel mehr tut, als Briefe zu verteilen. Er überbringt auch Nachrichten. Es geht um seltsame Künstler und Touristen, um die Teilnehmenden einer Jogaretraite und Schotten, die sich verirrt haben und auf ihrem Dudelsack blasen. Dann geht es um eine Frau, die das Leben im Tal getragen hat, und auch die erste Radiostation der Schweiz wird eine zentrale Rolle spielen. Sie entstand in den Dreissigerjahren im Centovalli.
Wird auch Dimitri auftreten – in Memoriam? MD: Ja, er wird in einer Form vorkommen, er ist unsere lebendigste Erinnerung.
Woher stammt das Material, aus dem die Geschichte gewoben ist? LA: Zum Beispiel aus dem Museo Regionale delle Centovalli e del Pedemonte in Intragna, das auch über ein wunderbare Fotosammlung verfügt, oder aus dem Schweizerischen Theaterarchiv. Vor allem aber führen wir Gespräche mit Zeitzeugen und Menschen aus dem Tal. AMG: Es geht um Erinnerungen, aber nicht nur. Es wird keine Dokumentation der Vergangenheit, sondern es geht auch um Heute. Wir durchbrechen Zeiten und Orte. LA: Es kann also sein, dass ein moderner Tourist in die Vergangenheit einbricht, oder jemand eine Vision hat, die sich in der Zukunft bewahrheiten wird. Wir machen ja ein Theaterstück, da muss die Fiktion genauso viel Platz einnehmen wie die Geschichte. MD: Wir wollen aber auch, dass die Zuschauer von Dingen erfahren, die im Centovalli wirklich geschehen sind.
Wird es wieder Musik von einer Bandella geben? MD: Ja, auch dieses Mal spielt sie an den Bahnhöfen, im Zug und natürlich am Schluss beim Fest. Wieder ist die Musik von Oliviero Giovannoni eigens für dieses Projekt komponiert und auch dieses Mal macht er tolle Kompositionen und auch Arrangements historischer Lieder für die traditionellen Tessiner Volksinstrumente Tuba, Posaune, Trompete, Klarinette und Saxophon. LA: Es ist wunderbar, wie Oliviero in der Geografie, Geschichte des Tals lebt, er lebt in den Steinen, im Material und holt dort alles heraus. Das ist bei diesem Projekt grundsätzlich das Tragende: Das Wohnen im Material macht die Kunst. Zudem konnten wir den Tessiner Autor Flavio Stroppini für unser Projekt gewinnen, ein Schriftsteller, der sich mit den Menschen in den Tälern im Tessin tief verbunden hat und seit Jahren ihre Geschichten erzählt.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der FART? LA: Längst ist sie grossartig, doch unsere erste Sitzung 2011 ist mir unvergessen. Sie war nicht ganz unkompliziert; für jedes Podest, das wir an einem Bahnhof aufstellen wollten, gab es genaue Meterangaben. Doch schnell wurde ganz vieles möglich. An einer Stelle unseres Stückes wollten wir beispielsweise, dass die Zuschauer aus dem Zug eine bessere Sicht auf eine Szene haben. Die FART organisierte, dass jeweils eine Weiche anders gestellt wurde und das Züglein einen anderen Weg nahm, damit dies gelang. Ein langjähriger Mitarbeiter der FART, der 2012 eine Chefposition in einem Büro hatte, besuchte gar einen Extrakurs, weil er an der Première unbedingt den Zug steuern wollte. AMG: Ohne die FART gäbe es die Infrastruktur für dieses Projekt nicht. Das ist ein Geschenk. MD: Es ist ein Hand in Hand-Arbeiten, das auf grossem gegenseitigen Respekt und Vertrauen beruht. Wir mussten ja immer dafür sorgen, dass die Schauspieler zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Dazu brauchten wir mehrere Autos, die zum Teil schneller fuhren als der Zug, weil die Schauspieler bei der Ankunft des Zügleins schon dort sein mussten. Wenn bei einem Bahnübergang die Schranke bereits unten war, musste das Züglein langsamer fahren. Solche Dinge gehen nur, wenn Menschen involviert sind, denen das Projekt ans Herz gewachsen ist.
Ihr arbeitet mit Laien aus dem Tal zusammen. Was ist das Besondere daran? MD: Was mich am meisten berührt hat, waren emotionale Situationen. Da merkt man den Unterschied zwischen Laien und Profis deutlich. Am Tag nach dem Tod meines Vaters standen wir beispielsweise wieder auf der Bühne. Das hat einige erschüttert und überfordert. Das Persönlich-Emotionale muss manchmal in den Hintergrund rücken. Es interessiert die Zuschauer nicht, ob jemand privat gerade verliebt ist oder zu Hause ein krankes Kind hat. LA: Wir arbeiten ja viel mit Laien zusammen und finden das wunderbar. Bei Laien ist der Cast die Kraft. Der Mann, der unseren Pfarrer spielte, ist eigentlich Hydrauliker von Beruf. Am Ende des Stücks wurde er einmal von einem Paar unter den Zuschauern gefragt, ob er es trauen könnte. > Video: Die erste Theater-Reise ins Centovalli > Künstlerische Leitung > Dokumentation, download pdf > Kontakt |